Es war der bis dahin aufregendste Sommer meines Lebens. Die Welt war auf einmal dort zu Gast, wo ich lebte. All die exzentrischen Persönlichkeiten, die nach Bregenz angereist waren, die verschiedenen Sprachen, das Orchester, die gigantische Seebühne, alles war spannend und neu.
Es war der Sommer des Fidelio, alles drehte sich thematisch um die Freiheit. Auf einmal entdeckte ich, dass uns Werke alter Meister tatsächlich noch etwas zu erzählen haben.
Für mich als Vorarlberger Teenager eine Offenbarung, die Erweckung eines vermeintlich künstlerischen Kampfgeists, der mich glauben ließ, ab nun gegen alle möglichen realen und imaginären Vorgaben rebellieren zu müssen.
Mein erster Job bei den Bregenzer Festspielen, war der eines „Rara-Girls“. Dies klingt weitaus verruchter als es im Endeffekt war. Meine Kolleginnen und ich hatten in einem glitzernden Chearleaderoutfit um den Darsteller des „Ministers“ zu tanzen. Geprobt wurde soviel, dass ich die Originalchoreographie selbst heute noch jederzeit, selbst aus dem Schlaf gerissen, ad hoc zu den Finalakkorden von „Heil sei dem Tag“ mittanzen könnte.
Ich wurde von einer Begeisterung für die Welt der Oper erfasst, die mich nie wieder losließ. Gleichzeitig entstanden in jenem Sommer Freundschaften, die bis in die Gegenwart andauern.
Und dann kam er: der Morgen nach der letzten Aufführung. Er stellte zu jenem Zeitpunkt die absolute Katastrophe für mich dar. Mit den Abreisen der Künstler und dem technischen Abbau begann die sofortige Auflösung jener Welt, die mich verzaubert hatte. Wenn ich etwas wahrhaftig nicht wollte, dann war es jetzt zurück in die Schule zu müssen. Zurück in ein Korsett aus Routine und unangenehmen Pflichten, in einen Alltag, der recht wenige Überraschungen zu bieten hat.
Ich fühlte mich gefrotzelt beim Anblick des strahlend blauen Himmels. Da hatte man unzählige Proben und verregnete Vorstellungen durchgefroren und dann, wenn ein trostloser Dauerregen der eigenen Stimmung deutlich besser entsprochen hätte, fand sich nicht die Spur eines Wölkchens am Firmament.
Das Gefühlskarussel dreht sich seither jeden Sommer auf dieselbe Weise. Alle Jahre wieder habe ich das Gefühl, nach einem fulminanten Schlussapplaus, als einzige in einem riesigen Publikumssaal sitzen zu bleiben. Nur ein Depp würde jetzt „Zugabe!“ rufen, und dennoch scheine ich durch eine Art innerlichen Sitzstreik genau dies erwirken zu wollen. Es folgt ein zum Scheitern verurteilter Versuch, einen Montag in den achten Tag der vergangenen Woche zu verwandeln, quasi einen Satz nach dem Finalsatz zu komponieren. Nur gelangt dieser nie zur Aufführung.
„Es sind doch nur neun Monate, dann geht der ganze Zirkus schon wieder los“, tröstete mich einst ein leicht entnervter Kollege, der meine Sentimentalität spürbar nicht nachvollziehen konnte. Er sah keinen Grund zur Wehmut, was das Saisonende betraf, hatte er doch wie sich später herausstellte, große Reisepläne. Im November erhielt ich eine Postkarte aus Nepal mit den Worten: „Nur noch sieben.“ Mein persönlicher Beweis, dass es auch anderen zumindest manchmal genauso so geht wie mir.
Mein Eintritt in die Berufswelt war zugegebenermaßen nicht in jeder Hinsicht so berauschend. Ich kann mich an meine erste Hospitanz erinnern, in welcher ich nächtelang in nicht enden wollenden Beleuchtungsproben im strömenden Regen mit einem Fahrrad samt Sarg-Anhänger um die Seebühne radelte, da ich den Leichenbestatter in Gershwins "Porgy und Bess" mimen musste. Der Sarg wog gefühlte Tonnen und mir ist bis heute nicht klar, warum für diese eigentlich recht kurze Szene, stundenlang Scheinwerfer eingestellt und programmiert werden mussten.
Es war derselbe Sommer, in dem mich eine später als schizophren diagnostizierte amerikanische Mezzosopranistin eine beachtlich hohe Treppe hinunter stieß, da sich die Arme - warum auch immer - eingebildet hatte, ich wäre eine Undercover-Agentin des CIA, die es auf sie abgesehen hätte. Seltsamerweise nimmt man solche Geschehnisse im Laufe eines langen Fespielsommers schon fast als normal hin. Ich war dennoch höchst erleichtert, als ich den Namen der besagten Dame im Folgejahr nicht mehr auf der Chorliste fand.
Und doch manifestierte sich während dieses Sommers irgendetwas, das mich dazu bewegte, weiter in diesem Feld arbeiten zu wollen. Während meines gesamten Studiums blieb ich den Festspielen treu, kam jedes Jahr zurück, um als Regieassistentin und nach Beendigung meines Studiums im Künstlerischen Betriebsbüro zu arbeiten.
Und auch heute als Musikmanagerin, treibt es mich im Sommer nach wie vor mit Begeisterung von Festival zu Festival. Natürlich könnte man einfach ein paar Wochen am Strand liegen, doch was gibt es Schöneres als nach einem beflügelnden Konzert in einer romanischen Kathedrale unter alten Platanen eines französischen Marktplatzes zu sitzen und mit Freunden bis spät in die Nacht zu essen, trinken und zu lachen. Oder in Glyndebourne zwischen Pimm’s und Picknick, unbekannte Cavalli-Opern zu entdecken? Nur ein Herz aus Stein könnte sich bei einem wildromantischen Sonnenuntergang nicht, zumindest für ein paar Stunden, in einen Rodolfo verlieben oder einer Carmen, Floria Tosca oder Poppea verfallen.
Der Zauber wirkt nich nur verlässlich bei den großen Klassikern der Opernliteratur. Vor wenigen Tagen schmolz ich dahin, als unter dem Grafenegger Sternenhimmel Alban Bergs Gedichtvertonung erklang:
Nun ziehen Tage über die Welt,
Gesandt aus blauer Ewigkeit,
Im Sommerwind verweht die Zeit.
Es liegt wohl am Sommer, dass sich alles intensiver anfühlt, auch die Musik.
Mir scheint, wir geben uns mit mehr Wagemut jenen musikalisch fantastischen Welten hin und nicht nur diese scheinen mit einem Mal lebendiger, auch wir selbst.
Es ist nicht so, dass ich mich nicht auf den Herbst freuen würde, dass ich nicht gespannt wäre auf die ersten Premieren der Saison, darauf in einen vertrauten Rhythmus zurück zu kehren.
Aber dann, spätestens beim Durchblättern und Einordnen der verschiedenen Festivalprogrammhefte in mein Wiener Bücherregal, da kommt er, der unausweichliche Moment, in dem ich mir eingestehe: Manche Dinge ändern sich auch mit Ende dreißig nicht. Ich will noch immer nicht zurück in die Schule.
Petra R. Klose, Wien, September 2017
(c) M. Aipperspach |
Petra R. Klose studierte Theaterwissenschaft und Germanistik, daneben Ausbildung in Ballett und Harfe. Sie arbeitete in den Bereichen Dramaturgie, Regie und Produktion für die Wiener Festwochen, Bregenzer Festspiele, Wiener Konzerthaus, Burgtheater und die Opéra de Lyon. Gründerin der Agentur K und K Wien, seither Zusammenarbeit mit Veranstaltern wie dem Festival Aix-en-Provence, Glyndebourne Festival, Mozartwoche Salzburg, Theater an der Wien, Bolschoi Theater, Teatro Real, Staatsoper Berlin, Musikverein und der Mailänder Scala.